Im Amazon-Logistikzentrum in Rheinberg geht ein Mann mit ruhigem, zielstrebigem Schritt durch die große Halle. Zwischen den riesigen Regalreihen wirkt er fast unscheinbar. Erst als er näher kommt, erkennt man den robusten Kerl: an den Unterarmen tätowiert und mit einem Grinsen im Gesicht. „Ich bin nix Besonderes“, findet Olaf Kahlweit. Er mache nur seinen Job.
Und der beginnt heute mit einer kurzen Einweisung für einen seiner Mitarbeiter an einem Rollwagen in der Lagerhalle. Olaf hält sich kurz und knapp. „Meine Leute müssen sich natürlich auch mal was anhören, wenn sie das nicht so machen, wie ich mir das vorstelle. Dafür mach‘ ich aber auch alles für die“, erklärt er grinsend und ergänzt dann im ruhigen Ton: „Ich schmeiß mich immer vor meine Leute“.
„Hier bin ich ein komplett weißes Blatt Papier. Und die Geschichte, die da draufstehen soll, die schreib ich mal schön selber."
„Seine Leute“, das ist das „Waste-Team“. Manche sagen auch „Mülljungs“. Aber der Begriff wird dem nicht gerecht, was der 49-Jährige in Rheinberg mit seinem Team aufgebaut hat. Nur die leuchtend orangene Weste, die Olaf über dem grauen Kapuzenpulli trägt, mag ein wenig an das Thema Abfallbeseitigung erinnern. Wer ihn von hinten sieht, liest auf der Weste „Leadership Team“, wer ihn von vorn sieht, erkennt einen stolzen Blick. Seit gut drei Jahren ist Olaf hier in Rheinberg der Entsorgungskoordinator. Gemeinsam mit seinen 14 Mitarbeitern sorgt er dafür, dass die gesamten Prozesse im Verteilzentrum reibungslos ablaufen: Folien, Pappe, herumstehende Paletten – nichts soll bei der täglichen Arbeit zwischen den Regalen die Arbeit stören und wird im Nu aus dem Weg geräumt.
Auf der Suche nach einer Herausforderung
Dass der kernige Typ mal ein Team leiten wird, hätte er vor ein paar Jahren nicht gedacht. So richtig rund ist es für Olaf lange Zeit nämlich nicht gelaufen: Die Ausbildung zum Maler und Lackierer hat er nie abgeschlossen, sondern lieber direkt Geld mit dem Pinseln verdient. Als LKW-Fahrer tourte er durch die Lande und hielt sich mit Handwerkerjobs über Wasser. Faul war er nie. „Mein Vater war Bergmann, hat 36 Jahre unter Tage gearbeitet“, erzählt der gebürtige Essener. Arbeit war immer Olafs Ding. Aber eine richtige Herausforderung, eine Perspektive, die fehlte. Das führte sogar in eine schwere persönliche Krise. Olaf spricht heute offen darüber, nachdem er sie bewältigt hat.
Gründergeist und Neuanfang
Über das Arbeitsamt erfuhr er, dass in Rheinberg ein neuer Amazon-Standort aufgebaut wurde. „Der Name Amazon war für mich damals ehrlich gesagt noch gar kein Begriff“, gibt er zu. Aber es lockte ein Arbeitsplatz in der Nähe vom Pott, da, wo Olaf seine Wurzeln hat und da, wo sich noch keine festen Strukturen etabliert hatten. „Hier bin ich ein komplett weißes Blatt Papier. Und die Geschichte, die da draufstehen soll, die schreib ich mal schön selber“, erinnert sich Olaf.
Das erste Kapitel dieser Geschichte schrieb er als Mitarbeiter der Technik. Denn den Standort Rheinberg hat er mit aufgebaut: im wahrsten Sinne des Wortes! Seine erste Aufgabe bestand darin, Tische zu montieren. Als er mit dem Schraubenschlüssel in der Hand loslegte, wusste er noch nicht, dass er nicht nur die Tische für die Arbeiter aufbaute, sondern tatsächlich auch die Grundlage für seinen ganz eigenen Werdegang bei Amazon schaffen würde.
Heiße Würstchen und helles Köpfchen
Der erste Job: Befüller. Das hieß, der gutgelaunte Typ fuhr mit dem Rollwagen voller Kartonagen durch die Gänge, um die Kollegen mit neuem Material zu versorgen. Das hätte er still und leise machen können, er aber pries seine Kartons als „heiße Würstchen“ an. „Arbeiten muss man. Aber ich möchte es mir dabei so angenehm wie möglich machen“, erklärt er sein Motto. Seine menschliche Art fiel auf. Da war einer, der reden konnte. Und zwar mit allen: mit den Jungs in der Halle genauso wie mit den Vorgesetzten. Das zeigte er in allen Abteilungen. Befüller, Packer, Picker, Trucky – Olaf hat in Rheinberg schon überall seinen Dienst getan. Eines jedoch zog sich durch alle Stationen: Ganz still für sich hat er stets darüber gegrübelt, wie er seine eigene Aufgabe effektiver bewältigen kann. „Beim Befüllen der Kartonagen hab ich überlegt, wie kann ich das besser machen, um dem Packer nicht immer im Weg zu stehen“, sagt er und zuckt wie selbstverständlich mit den Achseln. Er merkte sich, welche Kartons häufiger angefragt werden und welche weniger beliebt sind und entwickelte ein System. Sein Chef erkannte das Potenzial und bat ihn, das System auch seinen Kollegen beizubringen.
Es bringt nichts, sich zu verstellen
Als dann vor gut drei Jahren am Standort Rheinberg die Stelle eines Entsorgungskoordinators neu geschaffen wurde, lag es nahe, Olaf zum Vorstellungsgespräch einzuladen. „Hallo, ich bin der Olaf und bin von Geburt an schwer in Ordnung“, war der Satz, mit dem er die Personalchefs schon beim Kennenlernen überzeugte, und er freute sich über das lockere Gespräch. „Ich mag das nicht, wenn da alle so in Reih und Glied sitzen und vorgeben irgendwas zu sein, was sie nicht sind“, sagt Olaf. Und mit genau dieser direkten Art ging er auch seinen neuen Job an. Er beobachtete, was schief lief und machte Vorschläge zur Verbesserung. Er redete mit den Menschen und fand Schwachstellen im System. „Da sind vorher oft viel zu viele Leerfahrten gewesen bei der Abholung von Pappe“, nennt er ein Beispiel. „Das mag vielleicht so aussehen, als würden da nur Tonnen von links nach rechts geschoben, aber da gibt es Zahlen, die man sich auf der Zunge zergehen lassen muss“. Das Einsparpotenzial für Amazon war riesig.
„Ich hab mir hier meinen Mentor gesucht“
Um dieses auszuschöpfen, bekam und bekommt er von Kollegen Unterstützung. „Das möchte ich ganz klar betonen“, sagt er. Am Standort Rheinberg hat Olaf Kollegen und auch einen Mentor gefunden, die ihn unterstützen und helfen, seine Ideen umzusetzen. „Es gibt eben auch Dinge, die kann ich als Entsorgungskoordinator alleine nicht aus dem Weg räumen“, konstatiert er ganz ehrlich. Denn Olaf weiß, er ist hier als ungelernter Arbeiter schon erstaunlich weit gekommen und genau das ging ihm durch den Kopf, als er eines Morgens den großen Pappaufsteller am Eingang des Werks entdeckte: eine große Pappsilhouette eines Menschen mit dem Schriftzug „Hier bin ich richtig“. „Dat hab ich gesehen und gesagt. Ja, dat spricht mir aus der Seele“. Er bewarb sich bei der Aktion „Hier bin ich richtig“, ohne zu wissen, dass er damit die Chance auf eine Reise zu Amazons Zentrale in Seattle hatte. „Ich dachte nur, da kannste mal ein Statement abgeben“, erinnert er sich. Es sei Zeit gewesen, etwas zurückzugeben und darüber offen zu sprechen, welche Chancen er bei Amazon erhalten habe. Er schrieb eine kurze Bewerbung und gewann den Wettbewerb.
Ein Flug nach Seattle – eine Reise zu ihm selbst
Als Vertreter des Standorts Rheinberg reiste er mit acht Kollegen aus Deutschland für fünf Tage in die USA. „Das war gigantisch“, erinnert er sich. Seine Augen leuchten, wenn er an die Zeit denkt. Die Gruppe saugte den Spirit auf dem Amazon-Campus auf, besuchte eines der modernsten Verteilzentren, in denen Roboter die Arbeit der Kollegen unterstützen. Und er genoss ein paar freie Tage in Seattle. Olaf hatte seine Vorbehalte, aber die Haltung der Amerikaner gegenüber ihrem Arbeitsplatz sprach ihm aus der Seele: „Warum darf man nicht mal seinen Arbeitgeber wertschätzen? Das haben doch die Bergleute unter Tage auch gemacht!“ Für Olaf war diese Einstellung die Bestätigung dessen, was er erfahren hat: ein Geben und Nehmen. Klar, arbeite er viel. Aber Amazon schaffe Arbeitsplätze und biete Möglichkeiten, ohne die er nicht dort wäre, wo er jetzt ist: „Ich bin angekommen. Und diesen Job mache ich gern bis zur Rente, wenn man mich lässt“. Für Olaf Kahlweit sind das noch an die 17 Jahre. Aber er weiß die Zeit gut zu nutzen. „Ich hab schon eine E-Mail an meine Chefin vorbereitet mit 17 neuen Projekten, die ich gern umsetzen möchte“, grinst er stolz, geht weiter die Regale entlang und hebt ein kleines Stück Plastikfolie auf. Schließlich soll ja kein Abfall hier die Abläufe stören.