Computer Vision, Kausalität, maschinelles Lernen und Algorithmen – wer etwas über die Forschung zur Künstlichen Intelligenz (KI) erfahren möchte, merkt schnell, wie komplex das Thema ist. Für das Team aus Amazon Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, das seit 2018 in der Universitätsstadt Tübingen forscht, sind diese Begriffe Alltag. Einer von ihnen ist Dominik Janzing, der 23 Jahre lang an verschiedensten staatlichen Forschungseinrichtungen im In- und Ausland gearbeitet hat. Wir wollten von dem 53-Jährigen wissen, wie er aus der akademischen Forschung zu Amazon gekommen ist und ob er sein Forschungsgebiet „Kausalität“ auch so erklären kann, dass Laien es verstehen.

Dominik, du bist Physiker, Mathematiker und Informatiker und forschst seit 2002 auf dem Gebiet der Kausalität. Als Arbeitgeber wäre mir nicht als erstes Amazon in den Sinn gekommen.

Dominik: Mir bis vor drei Jahren auch nicht. Aber ich habe hier bei Amazon die Chance gesehen, durch die Arbeit an konkreten Fragen mein Forschungsgebiet, das mir am Herzen liegt, noch besser weiterzuentwickeln als bisher. Es geht darum, wie man anhand gegebener Daten Ursachen und Wirkungen herausfinden kann. Dies ist in vielen Bereichen die zentrale Frage.

Kannst du Kausalität an einem einfachen Beispiel erklären?

Nehmen wir mal an, eine Statistik ergäbe, dass Menschen, die viele Äpfel essen, im Schnitt länger leben. Wissen wir dann, dass diese Menschen länger leben, weil sie viele Äpfel essen? Nein, das wissen wir deswegen nicht, weil möglicherweise viele der Apfelesser mehr Sport treiben oder weniger rauchen. Leider sieht man der Statistik nur an, dass die beiden Größen „Apfelverzehr“ und „Lebenserwartung“ irgendwie im Zusammenhang stehen, aber nicht, dass die eine die Ursache der anderen ist. Zum Glück sagen manchmal statistische Daten aber eben doch etwas über Ursachen aus, aber dazu benötigt man Techniken und mathematische Verfahren, die gerade erst noch entwickelt werden. Daran arbeiten wir.

Soweit verständlich. Aber bei Amazon geht es ja aber nicht ums Apfelessen…

Stimmt. Das heißt aber nicht, dass die mathematischen Fragen andere wären. Bei uns geht es zum Beispiel darum, die Ursache dafür zu finden, dass ein Rechenprozess länger dauert als gewöhnlich. In einem so riesigen System von vernetzten Rechnern Ursachen für potenzielle Störungen zu finden, erfordert gut strukturierte mathematische Methoden. Und das Praktische an mathematischen Methoden ist ja, dass sie nicht davon abhängen, in welchem Gebiet sie eingesetzt werden.

Du betreibst also Grundlagenforschung?

Unsere Forschung muss natürlich irgendeine Bedeutung für Amazon haben, dabei ergeben sich aber Erkenntnisse, die auch in völlig anderem Zusammenhang relevant sind und dann als Grundlagenforschung veröffentlicht werden und von uns auch in Universitäten vorgetragen werden. Auch auf wissenschaftlichen Konferenzen tauschen wir uns immer wieder mit Forscherinnen und Forschern aus, die auf anderen Gebieten mit neuen mathematischen Techniken nach Ursachen suchen. Beispielsweise kann die Medizin, die den hochkomplexen menschlichen Stoffwechsel analysiert, um die Ursache einer Krankheit zu suchen, ähnliche Techniken der Datenanalyse anwenden wie wir bei unseren Rechnern. Unsere Praktikantinnen und Praktikanten lernen bei uns wissenschaftliche Fertigkeiten, mit denen sie auch in der Psychologie, Klimaforschung oder Biologie arbeiten können, falls sie das Gebiet wechseln möchten.

Künstliche Intelligenz – der Begriff ruft bei vielen Menschen auch Ängste hervor. Verstehst du die Vorbehalte?

Ja, der Gedanke, dass Computer Entscheidungen fällen aufgrund von Kriterien, die kein Mensch versteht, bereitet auch mir Bauchschmerzen. Aber vielleicht ist genau das ein Merkmal von schlechter KI. Gerade in letzter Zeit hat die KI-Forschung die Erklärbarkeit als Ziel definiert. Man möchte wissen, warum der Algorithmus zu einem bestimmten Ergebnis gekommen ist. Daran arbeiten auch wir und diese Fragestellung sollte unbedingt Teil eines internationalen Qualitätsstandards für KI sein. Ich finde, man muss politisch diskutieren, wohin KI führen soll. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die meinen, dass Politiker alles gut finden sollen, was die freie Wirtschaft hervorbringt. Politik sollte Regeln definieren, die dazu führen, dass man mit nützlichen Dingen Geld verdienen kann. Dass man vor zwei Jahrzehnten plötzlich mit regenerativer Energie Geld verdienen konnte, beruhte auf einer dringend nötigen politischen Weichenstellung. Ich diskutiere gerne darüber, welchen gesellschaftlichen Nutzen ich in unserer Forschung sehe, welche politischen Weichenstellungen die KI bräuchte und wie der Wissenschaftsbetrieb an sich besser werden kann. In diesem Zusammenhang möchte ich eine von mir im Dezember 2019 mit-initiierte Petition erwähnen, die auf den Top-Konferenzen virtuelle Präsentationen ermöglichen will, um Flugreisen zu reduzieren. Als sie gerade in den Wissenschaftsgremien diskutiert wurde, kam COVID-19 und die Konferenzen wurden für dieses Jahr ohnehin völlig virtuell. Nun hoffe ich, dass diese Option nicht im nächsten Jahr wieder verloren geht.

Kausalität ist eines der Teilgebiete der KI, an denen Amazon in Tübingen forscht. Die Teams arbeiten außerdem an 3D Scan-Technologien sowie an Verfahren zur Bildoptimierung, durch die Ladezeiten von Bildern auf Webseiten verkürzt werden, ohne die Qualität zu reduzieren. In allen Bereichen werden die Forschungsergebnisse in der Regel in Fachmedien publiziert und auf wissenschaftlichen Konferenzen präsentiert.