Eigentlich wollte Stefan Kaminski Meeresbiologe werden. Er denkt selber: Zum Glück hat das nicht geklappt. Denn sonst wäre aus ihm nicht einer der profiliertesten Hörbuch-Sprecher des Landes geworden – und das Märchenbuch „Es war einmal – Neue und klassische Märchen“ um seine charakteristische Stimme ärmer. Anstatt also regelmäßig in den Ozeanen dieser Welt zu tauchen, taucht Kaminski heute durch die Literatur in neue Welten ein. An mindestens 120 Tagen im Jahr macht er das – in Tonstudios. Und Tausende Zuhörer seiner Dokumentarfilm-, Synchron-, Hörbuch- und Hörspiel-Projekte mit ihm.

Stefan Kaminski zieht Grimassen

Weit über 400 Veröffentlichungen sind so seit 2006 zusammengekommen. Thriller, Fantasy, Romane – Kaminski kann alles. Aber: „Bei Märchen kommt ein Teil meiner Stärken besonders gut zur Geltung: Sprache zu kauen, Bilder zu malen, vielfarbig zu sein“, erklärt er. „Deshalb hatte ich von Anfang an große Sympathie für das Projekt.“ Wenn Amazon ab 20. September – dem Weltkindertag – gemeinsam mit seinen Partnern Stiftung Lesen, DHL sowie Thalia, Mayersche und Hugendubel eine Million Märchenbücher an junge Familien verschenkt, dann ist auch die Stimme von Stefan Kaminski zu hören – als Hörbuch-Version des Märchenbuchs.

Kaminski entwickelte einen neuen, moderneren Ton für die Märchen

Dass die Wahl auf ihn fiel, ist kein Zufall: „Es ging darum, die Märchen moderner, parlierender zu erzählen – nicht wie ein klassischer Märchenonkel. Also habe ich einen neuen Ton gefunden, versucht, das vital, behände, frisch zu sprechen.“ Dabei kommt Kaminski seine stimmliche Vielseitigkeit zugute. „Kinder-Hörbucher leben von einem spannenden Plot und der Lebendigkeit der Figuren“, hebt er hervor. „Daher habe ich versucht, stimmlich in verschiedene Rollen zu schlüpfen und so ein Figuren-Tableau zu eröffnen, das wie ein kleines Hörspiel daherkommt. Kinder brauchen diese Größe der Mittel. Die Farbigkeit und auch den Humor und die Berührung.“

Im Studio klappte das wunderbar – und weitaus schneller, als ursprünglich geplant: „Ich lese gerne im Bogen, das heißt, ich verschwinde in einer Glocke. Pausen machen mich müde“, erklärt Kaminski seine Arbeitsweise. Daher sitzt er gern fünf Stunden am Stück in der Sprecherkabine vor dem Mikro. Nur unterbrochen von kurzen zehnminutigen Pausen. „Im Rest der Zeit verschwinde ich und bin die Geschichte.“ Für das Märchenbuch benötigte er dank dieser Herangehensweise nur einen, anstatt wie zunächst geplant zwei Tage – auch, weil er bei 16 Märchen immer wieder neu ansetzen konnte und einen abwechslungsreichen Erzählstil fand, der ihn nie müde werden ließ.

Vorbereitung ist alles – das gilt auch im Tonstudio

Hinzu kommt, dass Kaminski ebenso viel Zeit für die Vorbereitung aufwendet, wie auf das Einlesen selbst. Zwei Aufnahmetage bedeuten also auch zwei Tage daheim, im stillen Kämmerlein. „Ich gehe den Text zuhause einmal leise im Kopf durch. Währenddessen notiere ich mir Betonungen, Bögen, Hebungen, Senkungen, Pausen, Dynamiken – das ist wie eine Partitur.“ Diese intensive Vorbereitung ist Kaminski schon allein aus Respekt vor Autor und Werk besonders wichtig. Aber auch, um später sein ganzes Potenzial abrufen und dem Stoff eine eigene Note geben zu können. Erst im Studio kommt dann seine Stimme dazu. Kaminski folgt dem Notierten wie einem Notenblatt. So erzeugt er aus der Präparation und dem Moment heraus jene Magie, die sich nicht planen lässt. „Das ist es, was mich im Studio richtig packt“, sagt er.

Da hilft es natürlich, wenn man die Geschichten selbst packend findet. „Privat mag ich Kunstmärchen wie den ‚Goldenen Topf‘ oder ‚Undine‘ von Friedrich de la Motte Fouqué. Aber auch Klassiker wie den ‚Froschkönig‘ oder ‚Rumpelstilzchen‘.“ Daher rührt Kaminskis Faszination für Märchen: Mit letzteren beiden startete er seine ganz persönliche Karriere als Sprecher – im Alter von 15 Jahren.

Mit seinem heimischen Kassettenrekorder nahm er die Geschichten in verschiedene Rollen schlüpfend auf, unterstützt durch seinen Plattenspieler, den er zum Einspielen von Hintergrundgeräuschen nutzte. „Diese Märchen sind wahnsinnig witzig, aber auch tragisch – das gibt sehr viel her für mich als Schauspieler. Da steckt einfach das Leben drin.“

„Kinder sind das tollste Publikum, das man haben kann“

Dieses Leben hat Kaminski jetzt im Rahmen der Märchenbuch-Aktion für hunderttausende Kinder deutschlandweit eingefangen: „Kinder sind das tollste Publikum, das man haben kann“, ist er begeistert. Denn bei ihnen sieht er die Fähigkeit, sich wundern, ereifern, begeistern, ausschütten, selbst vergessen zu können – und vor allem den Wunsch, sich in die „akustische Hängematte fallen zu lassen“ und von den Eltern oder einem Sprecher in ein „Kino im Kopf“ entführen zu lassen. „Das ist das Tolle am Vorlesen von Märchen – sie sind wie ein inneres Lagerfeuer. Ganz unerheblich, ob ein professioneller Erzähler oder Eltern sie vortragen“: Man entwickle Fantasie und Vorstellungskraft, könne sich passiv verzaubern lassen, müsse sich aber zugleich aktiv im Innern die Geschichte erarbeiten. Und verspüre immer die Wärme des gemeinsamen Moments.

Rückblickend ist Kaminski deshalb selbst froh, dass aus der Meeresbiologie nichts geworden ist. Denn schon lange hat er auch im Sprecherjob einen ganz besonderen Zauber gefunden: „Wenn ich es durch den Lautsprecher schaffe, dem Kind vertraut zu werden und ihm eine seelische Hängematte zu sein, dann ist das alles, was ich in diesem Beruf erreichen kann. Dann ist das mehr als arbeiten gehen.“