Berlin ist für viele Experten die KI-Hauptstadt der Bundesrepublik, denn hier werden im Verhältnis zur Einwohneranzahl die meisten und vielversprechendsten KI-Startups gegründet. Auch für Amazon Web Services (AWS) hat sich die Metropole zum zentralen Forschungsstandort für die Entwicklung neuer Technologien im Bereich künstlicher Intelligenz (KI) in Deutschland entwickelt. Wir haben daher mit Jonathan Weiss, Geschäftsführer der vier Forschungs- und Entwicklungszentren in Deutschland und Experten für die Themen KI und maschinelles Lernen (ML) bei AWS, über KI „made in Germany“, das Potenzial der Technologie und neue generative KI-Applikationen, die sein Team maßgeblich entwickelt, gesprochen.
Jonathan, vor deiner Zeit bei AWS hast du zwei Startups in Berlin gegründet. Wie unterscheidet sich die Arbeit in einem kleineren Startup zu deiner Arbeit bei Amazon?
Es ist im Kern gar nicht so unterschiedlich. Sowohl im Startup als auch bei AWS geht es darum, konventionelle Denkweisen immer wieder zu hinterfragen. Das heißt, jeder Tag ist anders. Wir wollen neugierig bleiben, für Probleme neue Lösungen finden und dabei mutig genug sein, um neue Dinge auszuprobieren und auch mal scheitern zu können, weil wir nur aus unseren Fehlern lernen. Bei AWS bezeichnen wir das als „Day 1 Culture“. In beiden Fällen spielen Agilität und Innovationskraft eine zentrale Rolle.
Stichwort Innovationen: gerade das Thema generative KI steht hierfür sinnbildlich und ist in aller Munde. Welche Rolle spielt das Thema für deine Teams?
Alle Amazon-Kunden nutzen schon seit 25 Jahren beim Onlineshoppen künstliche Intelligenz – auch wenn sie es bisher nicht gemerkt haben. Auch überall dort, wo Amazons Sprachassistent Alexa integriert ist, steckt KI dahinter. Unsere Teams in Berlin beschäftigen sich schon seit Jahren mit der Entwicklung von AWS ML- und KI-Clouddiensten, wie zum Beispiel dem Service Amazon SageMaker, mit dem ML-Modelle trainiert und entwickelt werden können. Diese ML und KI-Dienste werden von über 100.000 Geschäftskunden auf der ganzen Welt genutzt, aber standen bisher vielleicht nicht so im breiten öffentlichen Fokus.
2023 war nun aber sicherlich das große KI-Jahr, in dem die Technologie zum Mainstream-Thema wurde. Für viele markiert das auch einen Startpunkt für ein „goldenes Zeitalter“ der KI, da die Anwendung von KI sich weiterentwickelt hat und für die allgemeine Öffentlichkeit greifbarer geworden ist. Das hängt vor allem mit dem Aufkommen von generativer KI zusammen, welche von neuen großen Sprachmodellen angetrieben wird. Diese Sprachmodelle werden mit vielfach gesteigerter Rechenleistung und größeren Datenmengen trainiert.
Ist aus Deiner Sicht das Potenzial von generativer KI auch für deutsche Unternehmen ein großes?
Generative KI kann für jede Branche eine Art Innovationsturbo sein und das wird sich auf nahezu jeden Aspekt unseres Lebens auswirken – von der Softwareentwicklung bis hin zur Früherkennung von Krebs. Eine aktuelle Studie von AWS und Strand Partners zeigt beispielsweise, dass KI – alleine für die deutsche Wirtschaft – bis 2030 zu einer zusätzlichen Wertschöpfung von 116 Milliarden Euro beitragen könnte. Das Potenzial ist also riesig. Daher beschäftigen wir uns auch sehr konkret mit neuen Services, welche das Potenzial von KI für unsere Kunden nutzbar machen.
Warum ist KI für AWS in Berlin so relevant und woran arbeitet ihr genau?
Amazon investiert seit Jahrzehnten in die Entwicklung von KI und ML. Gerade Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle für Amazon. An unseren Forschungs- und Entwicklungsstandorten in Tübingen, Aachen und natürlich Berlin ist die KI/ML–Forschung fest verwurzelt. Eines unserer großen Ziele in Berlin ist es dabei, generative KI über die Cloud für jeden nutzbar zu machen und es unseren Kunden unabhängig von ihrer Größe zu ermöglichen, dass sie die großen Sprachmodelle der führenden Anbieter mit ihren eigenen Daten verwenden können, damit sie ganz spezifische Antworten oder Funktionalitäten bekommen, die genau auf ihr Geschäft und Problem zugeschnitten sind. Im Kern geht es uns also darum, wie große Mengen an Informationen sehr effizient verarbeitet werden können. Die erste Priorität hat dabei für uns, dass die Daten immer sicher geschützt sind.
Erst im November haben wir Amazon Q angekündigt, und der Service nun in Deutschland verfügbar. Amazon Q bietet als KI-Assistent für Unternehmen enorme Vorteile für die Automatisierung von zeitaufwändigen Aufgaben. Als einer der zentralen KI-Services von AWS wurde Amazon Q maßgeblich in Berlin entwickelt, in enger Zusammenarbeit mit unseren internationalen Teams in New York, Seattle und Amsterdam. Für die Entwicklung und Weiterentwicklung von Amazon Q arbeiten in unseren Büros in der Hauptstadt viele hochtalentierte Data-Scientists und Entwickler:innen zusammen.
In welchen Bereichen kommt Amazon Q zum Einsatz? Hast du konkrete Beispiele?
Amazon Q kann man sich wie einen sehr kompetenten Berater für ein Unternehmen vorstellen. Aktuell besteht Amazon Q aus zwei Hauptkomponenten: eine ist für die Umsetzung von Geschäftsanwendungen angedacht, wie beispielsweise Chatbots, und die andere Komponente wurde speziell für Entwicklerteams gestaltet.
So kann Amazon Q als KI-Assistent bei verschiedenen typischen Standardaufgaben im Unternehmenskontext mithilfe einfacher, natürlichsprachlicher Prompts, also bestimmter Ausführungsanweisungen oder Fragestellungen, helfen. Ein Marketingmanager kann Amazon Q beispielsweise darum bitten, einen Blogbeitrag auf Grundlage einer E-Mail zu erstellen oder den Erfolg einer Kampagne ausführlich zu analysieren. Für uns in Berlin ist insbesondere der Einsatz durch Entwickler:innen spannend, denn Amazon Q verändert die Art und Weise, wie diese KI nutzen und ist ein echter Produktivitäts-Booster in der Softwareentwicklung. Vor allem deshalb, weil Amazon Q ein tiefes Verständnis für den eigenen Code hat und als Softwareentwicklungsexperte auch sehr komplexe Fragen präzise in verschiedensten Sprachen beantworten kann. Das bietet zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für nahezu jeden Wirtschaftszweig.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Amazon Q kann bei der Entwicklung neuer technischer Features helfen oder bei der Anpassung von altem Code auf neue Programmiersprachversionen, wofür manuell sonst oft Tausende von Zeilen Code geändert werden müssten. Entwickler:innen können mit Amazon Q Code debuggen, testen und optimieren, oder sie erhalten eine Beschreibung in natürlicher Sprache mit passendem Code, den sie mit einem Klick übernehmen oder anpassen können. So konnte ein Team aus nur fünf Amazon-Entwickler:innen in einem Test mit Amazon Q 1.000 Anwendungen von Java 8 auf Java 17 in nur zwei Tagen aktualisieren. Praktisch bedeutete dies einen Zeitgewinn von mehreren Wochen, denn hierfür wären normalerweise dutzende Entwicklerteams nötig gewesen.
Wie können auch weniger technikaffine Menschen im Alltag eure Technologie schnell ausprobieren?
Wir beschäftigten uns nicht nur mit Anwendungen im Unternehmenskontext. Ein gutes Beispiel hierfür ist PartyRock, ein Amazon Bedrock Playground. Mit PartyRock ermöglichen wir es wirklich jedem, spielerisch KI zu entdecken. In Sekundenschnelle können eigene Apps erstellt werden, zum Beispiel für eine App, die automatisch eine Playlist für eine Party generiert, basierend auf dem Musikgeschmack der Gäste oder für eine Koch-App, die Rezepte, basierend auf den Zutaten im Vorratsschrank, vorschlägt.
Dabei wurde PartyRock von nur einer Handvoll Leute in Berlin gebaut und war ursprünglich eigentlich als internes Tool gedacht. Aufgrund der überwältigenden Resonanz haben wir das KI-Tool für externe Nutzer weiterentwickelt. Bisher wurden mit PartyRock schon bereits über mehrere zehntausend Apps entwickelt. Außerdem arbeiten wir mit renommierten Universitäten zusammen, darunter die National University of Singapore, die PartyRock für ihre Studenten als Tool zum Experimentieren im Bereich „Prompt Engineering“ nutzt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Jonathan Weiss arbeitet seit über zehn Jahren bei Amazon. Als Managing Director Amazon Development Center Germany verantwortet er die vier Forschungs- und Entwicklungszentren in Deutschland mit über 2.500 Mitarbeiter:innen. Sein Team arbeitet an Standorten in Deutschland, den Niederlanden und den USA. Als Teil der weltweiten Entwicklerteams treiben diese die Entwicklung wichtiger KI- und ML-Services für Amazon und Amazon Web Services voran. Dazu zählen Services wie Amazon Q, Amazon SageMaker oder PartyRock, die von Kunden weltweit genutzt werden. Bevor Jonathan zu Amazon kam, hat er das Startup Peritor gegründet, das 2012 von Amazon akquiriert wurde. Er studierte Softwaretechnik und BWL an der Technischen Universität Berlin und der Edinburgh Napier University.