Dieser Gastbeitrag von Jeff Wilke, CEO Worldwide Consumer Amazon, ist am 19.10.2018 zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

Auch wenn die amerikanische Westküste nach wie vor als Hollywood der Technologie bezeichnet wird, ist dies schon längst nicht mehr die einzige Gegend, in der Blockbuster produziert werden oder die Tech-Expertise beheimatet ist. Die Hälfte der zehn größten Informatik-Universitäten der Welt liegt in Europa. Sie bildet Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der Vision und dem Pioniergeist aus, große Probleme anzugehen, neue Lösungen zu entwickeln und die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, zu verändern.

Um die europäische Innovationskultur wettbewerbsfähig zu halten, sind jedoch weitere Investitionen erforderlich. Wir haben dies zu einer Priorität gemacht und in den letzten 16 Jahren 25 Entwicklungszentren in ganz Europa mit mehr als 5500 hochqualifizierten Wissenschaftlern, Ingenieuren und IT-Spezialisten eröffnet. Dies sind die Mitarbeiter, die Alexa ihre menschliche Stimme geben, Prime-Air-Drohnen das Fliegen beibringen oder Maschinen entwickeln, die Produktbeschreibungen in mehrere Sprachen für unsere Kunden übersetzen – und interessanterweise arbeiten sie alle mehr als 8000 Kilometer vom Silicon Valley entfernt.

Wir folgen den Experten

Unser heutiges digitales Zeitalter hat uns bedeutende globale Vorteile gebracht: schneller wachsende Volkswirtschaften, mehr Produktivität und bahnbrechende Innovationen. Technologie im alltäglichen, ja banalen Kontext, kann sogar zu tiefgreifenden Veränderungen führen.

Nehmen wir zum Beispiel unser Team in Berlin, das mit Hilfe von maschinellem Lernen unser Lebensmittelgeschäft transformiert und ein Reife-Nachweissystem für Lebensmittel entwickelt. Das System identifiziert, ob ein Stück Obst reif ist, und trägt so zu einem zuverlässigeren Online-Lebensmittelservice für unsere Kunden bei.

Dank der Technologie wird gleichzeitig Abfall reduziert. Dies ist ein notwendiger Fortschritt angesichts der Tatsache, dass laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) die Hälfte aller Obst- und Gemüseeinkäufe aufgrund ineffizienter und ungenauer Auslieferung im Abfall landet.

Solch innovatives Denken ist in unseren europäischen Innovationszentren Tagesgeschäft. Und genau deshalb wachsen wir hier in dieser Region weiter: In Großbritannien werden wir unsere Investitionen verstärken, um mehr als 1000 neue, hochqualifizierte Forschungs- und Entwicklungsstellen in unseren Entwicklungszentren in Edinburgh und Cambridge sowie in einem neuen Amazon-Büro in Manchester zu besetzen. Darüber hinaus schaffen wir Hunderte Jobs im Technologiebereich auch in anderen europäischen Ländern.

Die Gesellschaft war schon einmal zu langsam

Wir folgen dabei den Experten. Die geografische und kulturelle Vielfalt Europas bringt Amazon den Kunden näher und ermöglicht ein tieferes Verständnis für lokale Herausforderungen. So kann denn auch Alexa mehrere Sprachen sprechen und die Nuancen und kulturellen Unterschiede zwischen Ländern und Regionen verstehen. Dieser Ansatz wird auch von den Ergebnissen einer Studie gestützt, die sich mit 7000 Unternehmen befasst und feststellt, dass Unternehmen, die kulturelle Diversität leben, mit höherer Wahrscheinlichkeit neue und innovative Produkte entwickeln als Unternehmen mit geringerer kultureller Diversität.

Wie bei jeder industriellen Veränderung können langfristigen wirtschaftlichen Gewinnen jedoch kurzfristige Herausforderungen vorangehen. In der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts reagierten Industrie und Gesellschaft zu langsam bei der Weiterbildung von Arbeitern. Das führte jedes Mal zu Problemen, wenn die industrielle Revolution einen Gang zulegte.

Im digitalen Zeitalter stehen wir vor der gleichen Herausforderung. Ende des vergangenen Jahres ergab eine Studie der Europäischen Kommission, dass 44 Prozent der europäischen Bevölkerung über keine grundlegenden digitalen Kompetenzen verfügen, während neun von zehn zukünftigen Arbeitsplätzen genau solche Fähigkeiten voraussetzen. Um die digitalen Möglichkeiten voll auszuschöpfen, ist es wichtig, dass wir Menschen aus allen Kulturen und Nationalitäten in den Bereichen Ingenieurwesen, Mathematik, Informatik und anderen technikbezogenen Kompetenzbereichen entscheidend weiterqualifizieren, um sie auf die zukünftige Arbeitswelt in einer digital angetriebenen Wirtschaft vorzubereiten.

Jeff Wilke im Porträt
Jeff Wilke, CEO Worldwide Consumer
Foto von Rosanne Olson

Das bedeutet auch: Menschen, die bisher möglicherweise eine Karriere in den so genannten MINT-Bereichen nicht in Erwägung gezogen haben oder nicht für eine solche bereit waren, sollten nun in den Mittelpunkt der Bemühungen von Regierungen, akademischen Einrichtungen und der Industrie gestellt werden.

Wir konzentrieren uns darauf, zur Änderung dieser Situation beizutragen. Und das mit verschiedenen Projekten. Unser AWS re:Start-Trainingsprogramm vermittelt jungen Erwachsenen Einblicke in die Softwareentwicklung und in Cloud-Computing-Technologien. Darüber hinaus arbeitet unser Förderprogramm Amazon Women in Innovation mit führenden britischen Universitäten zusammen, um mehr Frauen für MINT-Berufe zu gewinnen.

Das Programm stellt Fördermittel und Mentoren für Frauen aus einkommensschwachen Verhältnissen zur Verfügung und bietet Praktika in unseren britischen Entwicklungszentren. Außerdem führen wir beispielsweise in Deutschland Programme wie Career Choice durch, in denen Weiterbildungskurse in stark nachgefragten Industriebereichen finanziell gefördert werden.

Europa ist eine Talentschmiede

Während solche Programme von Amazon und anderen Unternehmen für individuelle Arbeitnehmer lebensverändernd sein können, sind diese Initiativen nur dann effektiv, wenn sie als Teil einer weitreichenderen Zusammenarbeit zwischen Regierungen, akademischen Einrichtungen und Unternehmen aller Branchen angelegt sind und so sicherstellen, dass junge Menschen in ganz Europa mit genau den digitalen Fähigkeiten ausgestattet werden, die für den beruflichen Erfolg im digitalen Zeitalter nötig sind. Als Konsequenz dürften sich daraus nicht nur mehr europäische Start-ups der nächsten Generation, sondern auch größere externe Investitionen entwickeln.

Transformative digitale Technologie ist längst nicht mehr nur eine Erfolgsgeschichte aus dem Silicon Valley oder aus Seattle. Europa ist eine Talentschmiede und ein digitaler Nährboden, und wir sind begeistert von dem europäischen Investitions- und Innovationspotenzial. Die Förderung lokaler Innovationen, Produkte und Dienstleistungen und vor allem der Menschen eröffnet nicht nur bessere Nutzungserfahrungen für unsere Kunden auf der ganzen Welt, sondern hilft uns, kreativ zu denken und Neuland zu erschließen – von der Bestimmung des Obstreifegrades, um Abfall zu reduzieren bis hin zu Alexa, die Sehbehinderten hilft, dank ihrer Stimme zu sehen.